Vor etwa 6000 Jahren besiedelten die Polynesier die rund 10.000 Inseln des südlichen Pazifiks. Die Polynesier waren die findigsten Seefahrer der Geschichte in endloser Meeresweite.
Die Frage ist nur: Wie sind sie auf diese Inseln gekommen – auf einem riesigen Ozean, ohne GPS und völlig im Ungewissen, ob da überhaupt Inseln sind? Denn sie hatten die Reise angetreten, ohne vorher nur einen Zipfel Land auf dem Meer erblickt zu haben, ohne eine genaue Richtung zu kennen und ohne zu wissen, wann und wo „Land in Sicht“ gemeldet werden könnte.
Die Strategie der Polynesier war also „ergebnisoffen“. Und, das ist das Entscheidende: Genauso eine Strategie brauchen wir in dieser Pandemie. Denn in dieser Krisensituation steht keine eindeutige Richtung, die zu einem klaren Ergebnis führt, fest – auch wenn wir gern diese Sicherheit hätten. Doch Tatsache ist, wir können nur unter verschiedenen Richtungen mit noch unklarem Ausgang entscheiden. Dabei können wir aber von den Polynesiern lernen.
Prinzipien von Polynesischem Segeln
Das Hauptprinzip im Polynesischen Segeln ist, sich auf die eigenen Kraftreserven und Gestaltungsbereiche zu besinnen und dann, zu erweitern, was möglich ist.
Dazu zählen diese Fragen:
1. Wer bin ich?
Wie kann ich mich unterstützen, liebevoll tröstend, trotz der bleibenden Unsicherheit auf diesem mutigen Weg durch die Krise? Was ist mir ein sinnhafter Wert? Für was will ich in der Welt sein?
2. Was weiß bzw. kann ich?
Welche Krisen habe ich in meinem Leben schon bewältigt? Wie kann ich mich in die Situation hineinversetzen, in der ich die Krise gerade bewältigt hatte? Wie kann ich wieder Kontakt zu den damals erfolgreichen Handlungsstrategien bekommen?
3. Wen kenne ich?
Was habe ich für Netzwerke? Mit wem kann ich mich verbünden?
4. Was wäre der gerade noch vertretbare Verlust, den ich tolerieren kann? Was kann ich tun, wenn der eintritt?
5. Wie gestalte ich meine Beziehungen mit anderen Menschen? Welche Vereinbarungen treffe ich?
In uns gibt es also ein unbestechliches intuitives Wissen, ein riesiges Repertoire an Kraftreserven, die wir anzapfen können. Fähigkeiten, die uns Gott gibt und die Kraft geben und helfen, die Krise zu bewältigen.
Doch ist nach einem Jahr Corona die Luft raus, die Kräfte sie sind nicht mehr so leicht zugänglich. Darum brauchen wir auch einen ruhigen Ort, um von dort – mit Abstand zu allem, mit Überblick und in relativ sicherem Schutz – eine Position finden zu können. Verschiedene Übungen helfen dabei.
Übung: Eine Beobachterhaltung aufbauen
Eine Möglichkeit, eine Beobachterperspektive aufzubauen, ist das sogenannte Seitenmodell. Wir Menschen haben wertvolle Vielschichtigkeiten in uns. Und die machen wir uns hier zunutze. Stellen Sie sich einmal vor: Lediglich eine Seite von Ihnen ist in einer Krise. Und die ist schlimm dran, keine Frage. Aber die benötigt jetzt die volle Unterstützung anderer Seiten in Ihnen. Sie will gehört werden und braucht Ihre liebevolle, wertschätzende und würdigende Zuwendung, doch aus der Beobachterperspektive heraus. Damit gehen Sie gleichzeitig gegenüber Ihrem Krisenerleben auf Abstand. Das kann erleichtern.
Übung 1: Aufstehen. Durchatmen. Einen inneren Erlebnisraum kreieren
Ihr innerer Erlebnisraum hat sich durch den ständigen Druck verengt, und das hat sich womöglich auch auf Ihren Körper ausgewirkt. Sie atmen flacher, sind starr oder unruhig geworden. Wenn Sie in einer solchen Lage Ihre Krise angehen wollen, steht meist alles wie Berg vor Ihnen. Einen Ausweg erreichen Sie am besten über eine veränderte Körperkoordination.
Versuchen Sie eine Haltung einzunehmen, in der Sie sich geschützt, sicher und kraftvoll fühlen, mit gestärktem Rücken und einem Überblick. Bestimmt haben Sie das in Ihrem Leben schon einmal erlebt: am Strand, im Meer, auf einem Gipfel, wo auch immer Sie Weite oder Raum verspürt haben. Machen Sie jetzt mal eine Handbewegung nach vorne, die alles so ein bisschen auf Abstand schiebt. Damit Sie überblicken können, was da alles so um Sie herum tobt. Dabei atmen Sie tief ein, sodass Sie den Eindruck haben: „Diese Bewegung könnte mir Kraft geben!“ Und Ihre Ausatmung verbinden Sie mit einem kräftigen „Ja!“ oder „Ho!“
Übung 2: Mit sich selbst im wertschätzenden Dialog: Entscheidungen treffen
Vielleicht sagen Sie sich: Meine Entscheidung ist erst dann richtig, wenn ich sicher sein kann, dass es danach kein innerliches „Ja, aber …“ mehr gibt. Mit dieser Haltung aber manövrieren Sie sich in eine hausgemachte Zwickmühle. Diese Eindeutigkeit gibt es selten.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten ein Ich für die Gegenwart und eins für die Zukunft. Wenn ihr Gegenwarts-Ich unter all den unsicheren Bedingungen der Zukunft eine Entscheidung treffen wollte, in denen es nicht weiß, was dabei herauskommen kann, wäre es entscheidend, das ihr Zukunfts-Ich schon weiß: Natürlich tun wir als endliche Menschen, die wir die Zukunft nicht kennen, unser Bestes. Aber eines ist hundertprozentig sicher: Wenn nicht das Gewünschte herauskommt, dann wird der, der ich dann sein werde, sich achtungsvoll, liebevoll, loyal und mit wertschätzender Freundschaft meinem Ich in der Gegenwart entgegengehen und sagen: „Mensch, ich danke dir für deinen Mut, unter diesen Unsicherheiten doch noch etwas getan zu haben, wo du ja nicht mehr wissen konntest, als du wusstest. Es wäre so toll gewesen, wenn das Gewünschte herausgekommen wäre. Und jetzt ist es anders geworden.“
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Freude und Inspiration beim Polynesischen Segeln und schlage vor: Verbünden wir uns miteinander!